Forschungsprojekte
Entstehung und Kritik der Hauptschule im Kontext der bundesdeutschen Bildungsreformära
Die Geschichte ‚der‘ Bildungsreform in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird oft auf die Expansion weiterführender Schulen und die Öffnung akademischer Bildung reduziert. Für eine Historisierung der Bildungsreformära, die Distanz zur Lesart der Modernisierung und Demokratisierung einnimmt, ist es jedoch sinnvoll, von einer Pluralität zeitgenössischer Reformprojekte auszugehen. Seit der Nachkriegszeit war in Westdeutschland das Volksschulwesen Gegenstand intensiver pädagogischer sowie bildungspolitischer Debatten und Reformen geworden, die schließlich zur Entstehung einer neuen Schulform, der Hauptschule, führten. Dass dies nicht nur eine marginale Veränderung war, wird an den damit verbundenen Teilreformen deutlich: Die Schulpflicht wurde verlängert, alle Schulen wurden in Jahrgangsklassen unterteilt, das ländliche Schulwesen wurde zentralisiert, die Konfessionsgliederung in allen Bundesländern weitestgehend aufgehoben, die Lehrerbildung akademisiert und das Curriculum der neuen Hauptschule ‚verwissenschaftlicht‘. Die Volksschulreform war in den 1960er Jahren das Thema nicht nur von Lehrerbildner*innen und Erziehungswissenschaftler*innen, sondern auch von Parlamenten, Eltern und einer sich neu formierenden Bildungsöffentlichkeit.
Am Beispiel der Volksschulreform und der Einführung der Hauptschule untersucht die Arbeit, wie schulreformerisch auf die zeitgenössisch konstatierte „Krise“ der Volksschule reagiert wurde, welche Modi der Pädagogisierung sozialen Wandels sowie individuellen Aufwachsens dabei entworfen wurden und welche Folgen das für die Gestaltung von Pflichtschulbildung hatte. Dazu betrachtet sie am Beispiel bundesdeutscher pädagogischer Debatten sowie nordrhein-westfälischer Schulpolitik und Schulreformpraxis Konzepte, die für das Pflichtschulwesen diskutiert und erprobt wurden. Die Arbeit wertet die Einführung der Hauptschule somit nicht als geringfügige Modernisierungsmaßnahme, sondern sie sieht in dieser Reform eine grundlegende Umgestaltung schulischer Bildung, in deren Zusammenhang Antinomien moderner Schule besonders in Erscheinung traten und die Konflikthaftigkeit von Schule sowie ihrer Gestaltung auf ganz neue Weise zum Gegenstand und Problem einer größeren Öffentlichkeit wurde.
Dass die Hauptschule bereits kurz nach ihrer Einführung als gescheitertes Schulreformprojekt galt, führt die Studie u. a. auf gewandeltes schulpädagogisches sowie sozialisationstheoretisches Wissen zurück. Dieses ist erst während des langen Reformprozesses entstanden und es machte den Schulerfolg Heranwachsender auf neue Weise messbar, vergleichbar und damit skandalisierbar: An der Hauptschule ließ sich für zeitgenössische Kritiker*innen des Bildungswesens besonders einfach zeigen, dass zentrale Ziele der Bildungsreform –beispielsweise das Versprechen von „Chancengleichheit“ – nicht eingehalten werden konnten.
Die Dissertation wurde 2019 eingereicht und verteidigt. Sie wurde im Februar 2020 mit dem Klaus-Schaller-Dissertationspreis des Bochumer Instituts für Erziehungswissenschaft ausgezeichnet. Die Arbeit ist unter dem Titel Hoffnung Hauptschule . Zur Geschichte eines vergessenen Gesellschaftsprojekts der Bildungsreformära 1957-1973, Göttingen 2022 erschienen