CfA - Call for Abstracts
»Erwachsenen- und Weiterbildung erzieht!«
Dass Erwachsene einander erziehen, dass Organisationen erzieherische Funktionen gegenüber Erwachsenen einnehmen [i] und dass sogar Erwachsenenbildung erziehen könnte [ii], wird in der disziplinären Verständigung innerhalb der Erwachsenen- und Weiterbildung, aber auch in anderen erziehungswissenschaftlichen Bereichen weitgehend ausgeblendet. Das erstaunt nicht zuletzt deshalb, weil in modernen Gesellschaften fast selbstverständlich, von einer „Notwendigkeit [...] lebenslanger Erziehung“ [iii] ausgegangen wird, um den Anforderungen der Zeit gerecht zu werden, zum Beispiel, wenn es um die Bewältigung des Klimawandels, die Demokratisierung [iv] gesellschaftlicher Lebensbereiche oder den Anspruch des lebenslangen Lernens geht. Vor diesem Hintergrund wäre über Erziehungsbegriffe zu diskutieren, die sich als tragfähig für die Analyse und Kritik von Erwachsenenerziehung erweisen und es wäre zu fragen, auf welcher Grundlage und in welcher Weise Erwachsene gegenwärtig erzogen werden, wie die Erziehung von Erwachsenen historisch verhandelt und praktiziert wurde und wie sich erzieherische Praktiken und Prozesse erforschen, aber auch kritisieren und zurückweisen lassen.
Diesen und weiteren Fragen widmen wir uns in einer Arbeitstagung, die an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg veranstaltet wird. Ziel ist es, insbesondere das Verhältnis von Erwachsenenerziehung und Erwachsenenbildung in Theorie, Empirie und im Handlungsfeld aus unterschiedlichen Perspektiven und zu folgenden Schwerpunkten und Fragekomplexen auszuloten:
1. Erziehung und Bildung Erwachsener
Erwachsenenbildung – so ein verbreitetes Selbstverständnis – richtet sich qua ihrer erwachsenen Zielgruppe an bereits ‚fertig‘ Erzogene [v]. Vor dem alleinigen normativen Horizont von Bildung und Lernen bzw. durch das Fehlen eines Erziehungsbegriffs, werden erzieherische Zugriffe innerhalb von Erwachsenenbildung zu einem Nicht-Thema und können so keiner kritischen Betrachtung unterzogen werden. Wenn wir allerdings davon ausgehen, dass die Lebenspraxis von Erwachsenen auch durch Erziehung gekennzeichnet ist und Menschen in allen Lebensaltern zu Adressat*innen von Erziehung werden können [vi], ist gerade die Erwachsenen- und Weiterbildung dazu herausgefordert, Erwachsenenbildung mit Erwachsenenerziehung begrifflich, analytisch aber auch hinsichtlich konkreter Praktiken und Prozesse in Verbindung zu setzen.
In der Arbeitstagung lassen sich bspw. Bildungs- und Lerntheorien wie auch empirische Untersuchungen der Erwachsenenbildung auf die (implizite) Betrachtung von Erziehung hin befragen.
2. Erwachsenenerziehung in historischer Dimension
Die Diskussion um die Erziehung Erwachsener ist keineswegs ein neues Thema, das lediglich aus vermeintlich gesellschaftlichen Sachzwängen der Gegenwart erwächst, sondern lässt sich bis in die Volksbildung zurückverfolgen, sei es beispielsweise als „Volkserziehung“ [vii], als „arbeitsplatzübergreifende Erwachsenenerziehung“ [viii] oder als institutioneller Erziehungsgedanke [ix]. Das „Problem der Erwachsenenerziehung“ [x] und ihre Frontstellung gegenüber der Erwachsenenbildung war dabei nicht unumstritten [xi].
Auf der Arbeitstagung könnte beispielsweise zur Diskussion gestellt werden, ob und inwiefern die historische Blickrichtung auf die Diskurse zur Volks- und Erwachsenenerziehung neue Hinsichten für die Problematisierung gegenwärtiger disziplinärer Selbstverständnisse zum Thema Erwachsenenerziehung und Erwachsenenbildung eröffnet.
3. Profession und Disziplin
Grundlegend steht zur Diskussion, ob und inwiefern Erziehung ein relevantes Moment der Erwachsenen- und Weiterbildung darstellt, oder ob nicht die Annahme von Erwachsenenerziehung einer erwachsenenbildnerischen Grundhaltung und gängiger disziplinärer Selbstverständnisse widerspricht. So ist Erwachsenenerziehung nicht nahtlos mit der in der Erwachsenenbildung etablierten Teilnehmendenorientierung [xii] oder mit Konzepten wie der Selbststeuerung zur Begründung professionellen Handelns und als didaktische Prinzipien [xiii] verknüpft. In der Erwachsenenbildungswissenschaft schlägt sich dieses Fehlen des Erziehungsbegriffs insofern nieder, als grundlagenbegriffliche und -theoretische Auseinandersetzungen, aber auch empirische Analysen von Erziehungspraktiken und Subjekten der Erziehung in weiten Teilen fehlen.
Die Arbeitstagung begibt sich daher auf die Suche nach professionellen Standpunkten, empirischen Analysen und theoretischen Einsätzen zu Erwachsenenerziehung.
4. Ethik, Politik und Gesellschaft
Genau wie das Ideal der Bildung, auf das die Erwachsenenbildung meist rekurriert, muss auch Erziehung als Instrument bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung sichtbar werden, welches im Kontext politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Interessen bestimmte Funktionen erfüllt [xiv]. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob, wie und unter welchen Umständen, Erwachsenenerziehung legitimiert werden kann und welchen politischen und/oder ethischen Ansprüchen dabei gedient wird. Außerdem gilt es offenzulegen, wo möglicherweise Erziehung in anderem semantischen Gewand normalisiert wird – in der Erwachsenenbildung etwa unter den Begriffen ‚Training‘, oder ‚Qualifizierung‘.
Die Arbeitstagung soll einen Raum für kontroverse Auseinandersetzungen bieten, um erzieherische Momente zu benennen und sichtbar zu machen sowie nach kritischen Positionierungen zur Erwachsenenerziehung zu suchen.
Literatur
[i] Hunold, M., 2019, Organisationserziehung und Macht. Eine rekonstruktive Studie zu Erwachsenen in quasi-totalen Wohnorganisationen. Wiesbaden: Springer VS; Wendt, T. & Manhart, S., 2022, Gemeinsam verschieden. Organisation und Bildung im semantischen Feld erziehungswissenschaftlicher Prozessbegriffe. In: Zeitschrift für Weiterbildungsforschung, 45, S. 471–489.
[ii] Holzer, D., Erwachsenen- und Weiterbildung erzieht! In: Debatte. Beiträge zur Erwachsenenbildung, 5 (2) [i.E.]
[iii] Wittpoth, J., 2003, Erziehung – Bildung – Lebenslanges Lernen. Zum prekären Status von Absichten in der Erwachsenenbildung. In: D. Rustemeyer (Hrsg.), Erziehung in der Moderne. Festschrift für Franzjörg Baumgart, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 509–520, hier S. 516.
[iv] Nohl, A.-M., 2022, Erziehende Demokratie. Orientierungszumutungen für Erwachsene. Wiesbaden: Springer VS.
[v] Dinkelaker, J., 2021, Erzogenenbildung. Paradoxien der Adressierung Erwachsener im Horizont ihrer pädagogischen Vergangenheit. In: J. Noack Napoles, M. Schemmann & J. Zirfas (Hrsg.), Pädagogische Anthropologie der Erwachsenen. Weinheim: Beltz Juventa, S. 26–42.
[vi] U. a. Oelkers, J., 2008, Erziehung. In H. Faulstich-Wieland & P. Faulstich (Hrsg.), Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, S. 82–109, hier S. 82.
[vii] Bergemann, P., 1896, Über Volkshochschulen. Wiesbaden: Verlag von Emil Behrend.
[viii] siehe dazu Büchter, K., 2010, Weiterbildung für den Arbeitsmarkt und im Betrieb 1919 – 1933. Hintergründe, Kontexte, Formen und Funktionen. Hamburg: Universitätsbibliothek der Helmut-Schmidt-Universität Universität der Bundeswehr Hamburg, hier S. 243–259.
[ix] Angermann, F. 1930, Dreißigacker als Erziehungsgedanke. In: I. Theiß & H. Lotze (Hrsg.), Dreißigacker. Volkshochschule/Erwachsenenbildung. Jena: Eugen Diederichs, S. 35–43.
[x] Schultz, M., 1935, Zum Problem der Erwachsenerziehung.Breslau: Ohlau i. Schl.
[xi] z. B. Bergenthal, F., 1931, Der Begriff der Erwachsenenbildung. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 7 (2), S. 170–184.
[xii] Luchte, K., 2012, Teilnehmerorientierung als zentrales Prinzip der Erwachsenenbildung. In: Education Permanente, (3), S. 19–21.
[xiii] Breloer, G., Dauber, H. & Tietgens, H., 1980, Teilnehmerorientierung und Selbststeuerung in der Erwachsenenbildung. Braunschweig: Westermann.
[xiv] Ribolits, E., 2009, Bildung ohne Wert – Wider die Humankapitalisierung des Menschen. Wien: Löcker.
Organisatorisches
Wir laden Sie dazu ein, ein Abstract für die Gestaltung einer Arbeitsgruppe einzureichen, in der ausgewählte Fragen und Diskussionspunkte aus dem Call bearbeitet werden können. Für die (parallel stattfindenden) Arbeitsgruppen sind jeweils 90 Minuten vorgesehen, die Sie entsprechend eines inhaltlich passenden Formats Ihrer Wahl ausgestalten können (z. B. Impulsvortrag mit Diskussion, interaktiver Workshop, Textdiskussion, …). Geplant ist, im Charakter einer Arbeitstagung die Inhalte in kleineren Gruppen zu diskutieren und im Plenum zusammenführen.
Bitte reichen Sie Ihr Abstract von max. 3.000 Zeichen (exkl. Literaturangaben) bis zum 15. März 2024 unter der folgenden Mailadresse ein:
erwachsenenerziehung@paedagogik.uni-halle.de
Neben den inhaltlichen Bezügen zur Arbeitstagung stellen Sie bitte auch kurz ihr geplantes Format dar. Eine Rückmeldung zu Ihrer Einreichung erhalten Sie bis spätestens Ende April 2024.
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Call for Abstracts (Laufzeit des CfA: 08.01. – 15.03.2024)
Call for Abstracts_Erwachsenenerziehung_2024.pdf
(145.6 KB) vom 09.01.2024
